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Juli

Wurrunna und die schwarzen Schwäne
Wurrunna brachte eines Tages von einer langen Wanderung zum heiligen Berg Oobi Oobi Waffen mit ins Lager seines Stammes, wie sie noch nie jemand gesehen hatte. Diese Waffen wurden von einem Stamm gefertigt, in dem es nur Frauen gab und er hatte sie gegen Beutelrattenfelle eingetauscht. In dem fernen Land gab es keine Tiere und so hatten die Frauen ihn aufgefordert, noch mehr Felle herbeizuschaffen, für die sie ihm noch mehr Waffen geben würden.
Die Stammesmänner betrachteten die Waffen und beschlossen, Wurrunna auf seiner nächsten Reise zu dem Stamm der Frauen zu begleiten. Auch sie wollten bei den Frauen in der Nähe des heiligen Berges Oobi Oobi Beutelrattenfelle gegen Waffen tauschen.
Auf dem Weg dorthin warnte Wurrunna die Männer. Er glaubte, dass die Frauen Geister wären, denn in ihrem Land gab es keine Nacht und auch den Tod kannten sie nicht. Die Männer schauten den Wirinun (Medizinmann) ungläubig an. Es war unvorstellbar für sie, dass die Sonne nicht untergeht im Land der Frauen.
Wurrunna erklärte ihnen: „Die Dunkelheit ruht sich im Land der Frauen aus. Wenn sie aus unserem Land schwindet, rollt sie sich zusammen und verkriecht sich in der Erde, wo sie schläft bis sie wieder zu uns zurückkehrt. Die Sonne Yhi, auch sie ist eine Frau, ruht sich dort ebenfalls aus und darum kennt dieses Land keine Finsternis. Wir müssen uns also in Rauch hüllen, wenn wir in das Lager der Frauen wollen.“
Wurrunna hatte einen Plan. Er wollte die Ebene auf der sich das Lager der Frauen befand, umkreisen und auf der anderen Seite ein Feuer entfachen, in dessen Rauch sich die Männer reinigen konnten, wenn sie aus dem Lager der Frauen kommen würden. Für den Fall, dass die Männer aufgehalten werden sollten, hatte er ebenfalls einen Plan. Seine beiden Brüder sollten ihm dabei behilflich sein. Als Wirinun besaß er die Macht, die Brüder in zwei Vögel zu verwandeln, die sich auf dem See am Lager der Frauen niederlassen sollten. Da es in dem Land keine Vögel gab, würden die beiden ein großes Aufsehen erregen, wodurch die Frauen abgelenkt wären. Die Männer könnten sich von den Waffen nehmen, was sie brauchen und das Lager ungehindert verlassen. Er empfahl ihnen zusätzlich, kleine Tiere mitzunehmen. Wenn die Frauen nicht von ihnen lassen würden, könnten sie den Tieren die Freiheit geben. Der unvermutete Anblick der fremden Wesen würde ebenfalls Verwirrung stiften. Die Männer fingen Beutelratten, Beutelmarder, Flughörnchen und viele andere kleinere Tiere.
An der Grenze zum Land, in dem die Sonne nicht unterging schlugen sie ihr Lager auf. Wurrunna und seine Brüder schlichen sich über die Ebene auf die andere Seite. Dort entfachte der Wirinun ein Feuer und begann mit der Verzauberung seiner Brüder.
Bereits nach kurzer Zeit war die Verwandlung vollbracht und vor ihm standen zwei weiße Vögel, die er Baiamul (Schwäne) nannte.
Sobald die Frauen den Rauch entdeckten, ergriffen sie ihre Waffen und liefen neugierig in die Richtung der sonderbaren Erscheinung. Ihre Verwunderung war groß, denn auch das Feuer war bei ihnen völlig unbekannt. Noch im Lauf entdeckte eine der Frauen die weißen Vögel auf dem See. Der erstaunte Schrei, der ihrer Kehle entfuhr, lenkte den Blick aller auf das Wunder auf dem Wasser. Das Feuer war vergessen und eilig wandten sie sich den Vögeln zu.
Die Männer schlichen zum Lager und bemächtigen sich der Waffen, die sie fanden. Doch bald schon bemerkten die Frauen die Eindringlinge und lenkten ihre Schritte voller Zorn zurück. Die Männer ließen, wie von Wurrunna empfohlen, die Tiere in Freiheit, die in alle Richtungen das Weite suchten. Die Frauen liefen ihnen für kurze Zeit erstaunt nach, bis sie begriffen, was im Lager vor sich ging. Laut schreiend stürmten sie zurück. Doch es war bereits zu spät. Die Männer hatten die Felle an die Stelle der Waffen gelegt und waren mit der Beute in Richtung des Feuers davongeeilt. Sie verschwanden in der Dunkelheit und reinigten sich im Rauch des Feuers von allem Bösen, auf derEbene über sie gekommen war.
„Wi-bulloo! Wi-bulloo!“, riefen die Frauen, als sie sich dem Feuer näherten. Schließlich blieben verzagt stehen, denn das Feuer ängstigte sie ebenso wie die Dunkelheit, die sie gleichfalls nicht kannten. Sie begriffen, dass sie ihre Waffen nicht zurückbekommen konnten. Also wandten sie sich der anderen Ursache ihrer Verwirrung, den weißen Vögeln zu, um die Erscheinung zu ergründen. Doch auch diese waren verschwunden.
Ihr Zorn war unbeschreiblich und in ihrer Ohnmacht richteten sie ihren Verdruss gegeneinander. Nachdem ihnen die Worte ausgegangen waren, sprachen die Waffen. Sie fügten sich schreckliche Verletzungen zu und das Blut spritzte bis zum Himmel hinauf.
Fortan riefen alle Menschen der Stämme, wenn sich im Westen der Himmel blutrot färbte: „Der Himmel ist rot. Die Wi-Bullos streiten wieder bis aufs Blut.“
Während die Männer mit den geraubten Waffen ins Lager zurückkehrten, zog Wurrunna weiter zum heiligen Berg Oobi Oobi, der nordöstlich vom Land Wi-bulloo lag.
Wurrunna zog gedankenlos seine Bahn und er hörte nicht das verzweifelte „Biboh! Biboh!“, seiner gefiederten Brüder, die ihn umkreisten und darauf hofften, dass er sie zurück verwandeln würde. Er schritt gedankenverloren die Stufen zum heiligen Berg hinauf, die in den Felsen geschlagen worden waren, damit Baiame ohne Anstrengung auf die Erde hinabsteigen konnte. Die verzweifelten Vögel ließen sich kraftlos in einer nahe gelegenen Lagune nieder. Kaum hatten sie ein wenig Atem geschöpft, da bemerkten sie zwei Adler-Habichte, die als Boten der Geister unterwegs waren. Die Raubvögel vergaßen angesichts der weißen Schwäne ihren Auftrag und stürzten sich auf die unbekannten Vögel. Eine wilde Flucht nach Süden begann und immer wieder hackten die Raubvögel auf die verzauberten Brüder ein, bis sie fast gänzlich ohne Federn und blutig abstürzten. Da endlich war der Blutrausch der Geisterboten gestillt und sie entsannen sich ihres Auftrages. Die beiden Brüder hockten schmerzvoll, blutend und frierend am Rande einer salzigen Lagune. Und als ihre Verzweiflung am größten war und sie glaubten, sterben zu müssen, regneten plötzlich schwarze Federn vom Himmel herab und bedeckten ihre geschundenen Körper. Als die Baiamul-Brüder zum Himmel aufschauten,kreisten unzählige Krähen über ihnen. Die Adler-Habichte waren auch die Feinde der Krähen. Darum waren die schwarzgefiederten Vögel gern bereit zu helfen. Und so hatten die Schwäne ein neues Federkleid, das sie wärmte und gesunden ließ. Ihre bluttriefenden. Schnäbel sollten ihre rote Färbung beibehalten.
Wieder bei Kräften traten die großen Vögel den Rückflug an und als das Lager in Sicht kam, riefen sie laut: „Biboh! Biboh!“
Wurrunna erschrak. Der verzweifelte Schrei seiner Brüder erinnerte ihn an sein Versäumnis. Die Trauer über seine schändliche Vergesslichkeit beraubte ihn aller seiner Zauberkräfte als Wirinun und er war nicht mehr imstande, die Brüder zurück zu verwandeln. Baiame bestrafte ihn dafür, dass er vor der Zeit in das Himmelsland gegangen war.

(Quelle: Die Zeit vor der Zeit Mythen der Aborigines; Frank Sporkmann; Aleph Verlag)