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November
Augustino, der Dieb
Mucho antes de que nevara en Mallorca…
Lange bevor es auf Mallorca schneite, lebten in Artá eine Mutter und ein Vater, die nur einen einzigen Sohn hatten, der Augustino hieß. Noch vor Augustinos 7. Geburtstag starb sein alter Vater, und seine letzten Worte waren: „Liebe Frau, wenn Augustino groß ist, dann lass ihn sich den Beruf, den er ausüben will, selber aussuchen.“ Seine Frau versprach es ihm in die Hand, und der gute Mann starb ruhig und zufrieden.
Als Augustino ein wenig älter war, schickte ihn seine Mutter in die Schule, aber er lernte nicht gern. Oft kam er zu spät zum Unterricht, und am liebsten tat er den ganzen Tag nichts. Er balgte sich viel mit anderen Jungen, und wenn einer ihn angriff, dann schlug Augustino ihm die Nase blutig.
Weder sein Lehrer noch seine Mutter konnten ihn bessern. Zuerst versuchten sie es mit Güte, und als das nichts half, mit Strafen. Aber auch die nutzten nichts. Augustino hatte den Teufel im Leib.
Er war so leichtsinnig, dass er nichts ernst nehmen konnte. Je mehr sein Lehrer und seine Mutter ihn ermahnten, desto aufsässiger wurde er.
Als Augustino 15 Jahre alt war, nahm ihn seine Mutter beim Ohr und sagte zu ihm: „Sohn, es ist Zeit, dass du das Leben endlich ernst nimmst! Schluß jetzt mit dem dummen, albernen Benehmen! Wenn du nicht auf bessere Gedanken kommst, mache ich Feuerholz aus deinem Kopf! Als dein Vater starb, sagte er, du solltest dir den Beruf aussuchen, den du möchtest. Nun sag mir, was du werden willst. Willst du Priester werden?“
„Nein“, antwortete er, „da müsste ich zu viel studieren.“ - „Aber weißt du nicht, dass du als Priester immer gut leben und Schokolade und Äpfel essen kannst?“ - „Komm mir nur damit nicht! Ich habe gar keine Lust dazu!“
„Nun, dann willst du vielleicht Rechtsanwalt werden?“
„Was ist das, ein Rechtsanwalt?“ fragte Augustino.
„Das ist ein ehrenwerter Herr mit langem Bart, der in der Stadt wohnt und viel Papier beschreibt. Er hat viel mit Ämtern zu tun und verdient mit seiner Arbeit viel, viel Geld.“
„Und was muss ich tun, um Rechtsanwalt zu werden?“
„Oh, mein Sohn, zuerst musst du in der Stadt studieren, dann noch woanders, irgendwo auf dem Festland.“
„Um mit Ämtern sich herumzuärgern und Papier zu beschmieren, braucht es so viel Kopfzerbrechen? Wenn ich von Artá fortgehe, dann bin ich ein Niemand. Ich kann genauso gut hier Papier beschmieren!“
„Willst du nun also Rechtsanwalt werden oder nicht?“
„Du weißt, was ich will und meine“, sagte Augustino, „wenn zwei Katzen zusammen sind, gibt’s nur Zank und Streit. So ist es auch mit den Rechtsanwälten. Nein, ich will keiner werden!“
„Nun gut“, sagte die Mutter, „dann willst du sicher Arzt werden.“
„Noch weniger! Lustige Berufe hast du für mich ausgesucht! Doktoren sind nur dazu gut, einem Rizinusöl und Sennesblätter, Madrider Salz und andere grässlich schmeckende Sachen zu verordnen - alles scheußliches Zeug! Wenn ich nur einen Arzt sehe, dreht sich mir der Magen um!“
„Aber, Junge, sie geben dir diese Arzneien doch nur, um dich zu heilen.“
„Zu heilen? Geradewegs zum Friedhof schicken sie einen!“ sagte Augustino. „Komm mir nur nicht mit Rizinusöl und Friedhöfen, Mutter!“
„Nun, dann willst du vielleicht Schreiner oder Klempner oder Müller werden…?“
„Ich habe nicht die geringste Lust zu diesen Berufen. Da muss man viel zuviel arbeiten.“
„Ein richtiger Mann wird man erst durch Arbeit. Auch Schmuggler müssen arbeiten. Aber schau dich einmal an: Du führst doch nur ein unnützes Leben! Du isst und trinkst und gehst müßig. Aber dein Vater hat gesagt, du sollst selbst einen Beruf wählen. Was willst du werden?“
„Ich weiß, was ich werden will“, erwiderte Augustino, „ein Dieb!“
„Was?“ rief Augustinos Mutter.
„Ich will ein Dieb werden. Das ist ein herrlicher Beruf. Ich brauche dazu kein gutes Benehmen und kein Studium. Alles, was ich zu tun habe, ist stehlen.“
Als Augustinos Mutter das hörte, konnte sie sich nicht länger beherrschen. Plim-plom, plim-plenna, ohrfeigte sie ihren Sohn, bis seine Ohren purpurrot waren.
Aber Augustino wiederholte hartnäckig: „Ich will ein Dieb werden, und ich werde einer. Ein Dieb, ein Dieb, ein Dieb!“ Endlich hörte seine Mutter zu schlagen auf. „Hast du jemals gehört, dass einer ein Dieb werden will?“ fragte sie. „Weißt du nicht, dass man dich verhaften und ins Gefängnis werfen wird?“
„Nur die Dummen werden ertappt, die Kleinigkeiten stehlen. Wenn ich aber große Sachen stehle, bekommen sie mich nie. Das ist der leichteste Beruf. Man stiehlt soviel man kann, und lebt gut. Und hat Vater bei seinem Tode nicht gesagt, dass ich mir jeden Beruf aussuchen kann? Also wollen wir nicht weiter streiten!“
Augustinos Mutter war so niedergeschlagen, dass sie zu ihrem Schwager ging und ihm alles berichtete. „Schick mir den Augustino mal her!“ sagte dieser.
Einige Tage später sandte Augustinos Mutter ihren Sohn zu ihrem Schwager.
Der Schwager versuchte Augustino davon zu überzeugen, dass er den falschen Weg einschlagen wollte.
Augustino sagte: „Was habt ihr nur, du und meine Mutter? Ihr erzählt immer dasselbe. Ich glaube, dass Dieb zu sein ein guter Beruf ist. Viel stehlen, die Augen offenhalten - dann lebt man auf Kosten anderer, bis man stirbt. Ich will ein Dieb werden!“
Als der Schwager merkte, dass alles vergeblich war, sprach er: „Wenn du deinen Sinn nicht ändern kannst, will ich dir wenigstens helfen. Ich kenne den Hauptmann einer Diebesbande, die in einer Höhle nahe Ferrutx haust. Ich werde dir einen Empfehlungsbrief schreiben, den du, wenn du fortgehst, mitnehmen kannst.“
„Herrlich! Dann kann ich dort in die Lehre gehen und ein Zeugnis bekommen!“
Augustino war glücklich. Inzwischen schrieb der Schwager einen Brief an den Räuberhauptmann in Ferrutx. Darin berichtete er alles über Augustino und dessen Mutter und bat den Hauptmann, dem Jungen den Kopf zurechtzusetzen und dafür zu sorgen, dass er die Lust am Diebsein verlöre.
Augustino nahm den Brief mit. Er konnte ihn nicht lesen, weil er in der Schule nichts gelernt hatte.
Augustino ging mit dem Brief heim und sagte seiner Mutter, dass er zur Höhle von Ferrutx gehen und sich den Dieben aus Lehrling anschließen wollte.
Früh am Morgen verließ er Artá, kam durch Forteza und marschierte auf Morell zu. Als die Sonne aufging, war Augustino schon hinter En Fraig und den Häusern um Devesa.
Er war glücklich und hüpfte ab und zu in die Höhe. „Viva, viva, alles geht gut!“ sagte er zu sich selbst.
Schließlich näherte er sich der Höhle von Ferrutx. Da tauchten plötzlich drei Männer hinter einem Gebüsch auf und riefen: „Halt - oder du bist des Todes! Keinen Schritt mehr!“ Sie liefen auf Augustino zu und sprachen: „Geld her oder das Leben!“
„Hallo, Kameraden, hallo Freunde!“ antwortete Augustino. „Ich bin gekommen, um mich euch anzuschließen. Ich will einer von euch, ich will ein Dieb werden.“
„Geld oder Leben!“ wiederholten die Diebe, denn sie glaubten, Augustino wollte sich nur herausreden.
„Ich habe kein Geld“, sagte Augustino, „ ich bin wirklich gekommen, um bei euch ein Dieb zu werden.“
Sie untersuchten seine Taschen, fanden aber nichts. „Bringt mich zu eurem Hauptmann!“ sagte Augustino.
Als er vor dem Hauptmann stand, sprach er: „Ich möchte hier in die Lehre gehen.“ Und Augustino gab dem Hauptmann den Brief.
Der Hauptmann las den Brief und sagte mit finsterer Miene: „Wenn ich einen Befehl gebe, rede ich nicht zweimal. Bald werden wir wissen, ob du ein guter Dieb werden kannst.“
Die Höhle von Ferrutx, wo die Bande hauste, lag in den Bergen versteckt und konnte nur auf einem Saumpfad mit vielen Windungen erreicht werden. Vom Höhleneingang aus konnte man die ganze Insel überblicken. Zur Linken sah man Randa und San
Llorens, rechts lagen La Victoria und Formentor. Und wenn man geradeaus sah, erblickte man die Ebene von Petra, Sineu, Llubi, Artá, Santa Margalida, Muro, Sa Pobla, Alcudia, Inca und - ganz hinten am Horizont Binisalem.
Von der Höhle aus konnten die Diebe meilenweit Ausschau halten und jeden sehen, der herankam. Sie konnten feststellen, ob es „carabineros“ oder „guardias“ waren oder ein reicher Reisender.
Ein paar Tage später stand der Hauptmann vor der Höhle und spähte ins Land. Er erblickte einen Mann, der die enge Straße bei Betlem hinaufging.
An seinen beiden Schultern und derben Schritten erkannte ihn der Hauptmann schon von weitem. Es war Massot aus Artá, und er trug ein Schaf auf seinem Rücken.
Der Hauptmann rief Augustino und sagte zu ihm: „Du siehst diesen Mann auf der Straße dort kommen, er trägt ein Schaf auf den Schultern“ - „Ja, ich sehe ihn“, antwortete Augustino.
„Gut, dann zeige, was du gelernt hast! Und komm nur ja nicht ohne sein Schaf wieder!“
Augustino dachte ein Weilchen nach und sagte dann: „In Ordnung. Ich brauche ein Schwert mit Scheide.“
Man gab ihm ein neues Schwert mit Scheide, und Augustino eilte bergabwärts. „Augustino wird das Schaf niemals bekommen“, sagten die Diebe untereinander. „In Artá gibt es keinen schlaueren Mann als Massot und keiner kämpft besser.“ Inzwischen war Augustino über eine Abkürzung schon hinter Forteza gelangt und wartete an der Straße, auf der Massot vorbeikommen musste. Augustino legte die Schwertscheide auf die Straßenmitte, und ein bisschen weiter warf er auch das Schwert hin. Dann versteckte er sich in den Büschen.
Kurz darauf bemerkte Massot, der mit dem Schaf auf den Schultern die Straße heraufkam, die Scheide und hob sie auf. „Eine schöne Scheide ist das! Jemand muss sie verloren haben“, dachte Massot, „aber ich habe kein Schwert, was soll ich da mit einer Scheide?“ Also warf er die Scheide fort und ging weiter.
Nach 400 Schritten sah er etwas auf der Mitte der Straße aufblitzen und fand das Schwert. „Wundervoll! Das muss das Schwert sein, das zu der Scheide, die ich fand, gehört. Hoffentlich ist sie noch da! Ich werde mein Schaf hierlassen, dann kann ich schneller zurücklaufen.“
Massot setze das Schaf ab und eilte zurück, um die Scheide zu holen.
Augustino, der Massot beobachtet hatte wie die Katze die Maus, kam hinter den Büschen hervor, ergriff das Schaf, schwang es auf seine Schultern und rannte zur Räuberhöhle. Als Augustino ankam, wollten der Hauptmann und die anderen Diebe kaum ihren Augen trauen.
„Du hast tatsächlich Massots Schaf gestohlen?“ fragten sie.
„Ich sagte es ja schon vorher“, meinte Augustino.
„Und Massot? Hat er dich nicht geschlagen?“
„Er hat mich nicht einmal angerührt.“
„Teufel!“ schrien alle Diebe. „Keiner von uns hat es jemals fertiggebracht, Massot auch nur ein Roggenkorn fortzunehmen.“
Inzwischen war Massot wieder an die Stelle gekommen, wo er das Schaf zurückgelassen hatte, aber er konnte keine Spur des Tieres mehr entdecken. „Wo kann es nur sein? Wo?“ fragte er sich. Massot suchte den ganzen Berghang ab. Zuletzt ging er zu dem Schäfer, wo er das Tier gekauft hatte, und sagte: „Hast du mein Schaf gesehen, jenes, was ich von dir gekauft hatte? Möglicherweise ist es zur Herde zurückgelaufen.“
„Ich habe es nicht gesehen“, antwortete der Schäfer. Beide suchten nun lange, konnten das Schaf aber nicht entdecken, genau so wenig, wie man einen Eselsschwanz an einem Ochsen finden kann. Denn das Schaf war ja schon geschlachtet und in der Höhle von Ferrutx zur Hälfte aufgegessen worden.
Schließlich sprach der Schäfer: „Siehe, Massot, wenn du wirklich ein Schaf brauchst, kannst du ein anderes haben. Benutze dieselbe Straße, dann wird dasjenige, das du verloren hast, wieder herbeikommen, wenn es ein anderes Tier aus der gleichen Herde bei dir sieht.“
„Danke für den Gefallen!“ sagte Massot und eilte mit dem zweiten Schaf fort. „Ich werde seine Beine zusammenbinden“, sagte er sich, „dann kann es nicht weglaufen.“ Also band er die Beine des Schafes mit sieben Knoten zusammen, nahm das Tier auf seine Schultern und ging auf der Straße nach Artá weiter.
Der Räuberhauptmann aber suchte wieder die Gegend nach Beute ab und entdeckte Massot mit dem neuen Schaf auf seinem Rücken. „Da kommt Massot wieder“, sagte er und rief Augustino herbei.
„Hole auch dieses Schaf und komm nur ja nicht ohne es zurück!“ befahl er.
„Binnen kurzem werde ich mit dem Tier zurück sein“, sagte Augustino, und eilte, trit-trot, zur Straße.
Als er dort ankam, versteckte er sich in einem großen Busch und wartete auf Massot. Bald hörte er dessen Schritte, da begann er zu blöken: „Mäh, mäh määh.“
„Hölle und Teufel, was höre ich?“ sagte Massot. „Das muss mein verlorenes Schaf sein! Es blökt, weil es Hunger hat. Ich werde hinlaufen und es fangen. Dieses lasse ich hier damit ich schneller rennen kann.“
Als Massot das Schaf auf den Boden gelegt hatte, lief Augustino hinter einen etwas entfernteren Busch und machte weiter: „Mäh, mäh, määh.“
„Verflucht noch einmal!“ schrie Massot. „Das Schaf läuft mir davon. Ich muss so tun, als ob ich auch ein Schaf wäre.“
Und so rief auch Massot „Mäh, mäh, määh“, in der Hoffnung, das Schaf würde zu ihm kommen.
Augustino aber huschte von Gebüsch zu Gebüsch und bewegte sich immer schneller fort.
„Du Biest von einem Schaf!“ fluchte Massot, als er kaum folgen konnte. „Ich kann dich hören, aber kein Wollflöckchen von dir sehen.“ Und Massot rannte weiter um den ganzen Berg herum, immer „Mäh, mäh, määh“ rufend.
Nach längerer Zeit hatte Augustino Massot weit von der Straße fortgelockt. Er hörte mit seinem „Mäh, mäh, määh“ auf und rannte so schnell er konnte dorthin zurück, wo Massot sein zweites Schaf gelassen hatte.
Er fand das Tier mit sieben Knoten zusammengebunden, genau so, wie Massot es zurückgelassen hatte. Augustino packte es bei den Beinen und schwang es auf seine Schulter. Dann eilte er zur Höhle von Ferrutx und vertraute auf seine Schnelligkeit.
Die Diebe in der Höhle - sicher, dass Massot sich nicht zum zweiten Mal anführen lassen würde - warteten gespannt darauf, dass Augustino mit einem blauen Auge, aber ohne Schaf zurückkommen werde. Als sie ihn jedoch mit dem Tier auf dem Rücken erblickten, erstarrten sie fast zu Tropfsteinen.
„300 Teufel!“ rief der Hauptmann. Dann sagte er leise zu sich selbst: „Was für ein schlauer, kleiner Teufel ist dieser Augustino! Er erteilt uns allen eine Lehre. Was soll ich nur tun? Er steckt uns ja allesamt in die Tasche! Ich habe seinem Onkel versprochen, ihm die Lust am Dasein eines Diebes zu nehmen, und nun macht er seine Arbeit wie ein Meister!“
Inzwischen war Massot des Laufens von Busch zu Busch müde geworden. Sein Hals war ganz rauh vom vielen „Mäh, mäh, määh!“
„Was für ein Pech!“ dachte er bei sich. „Ich kann mein verlorenes Schaf nicht einmal mehr hören. Und ich war doch ganz dicht hinter ihm! Nun gut, da ich mein Schaf nicht finden kann, gehe ich besser zu dem Tier zurück, das ich - mit sieben Knoten gebunden - zurückgelassen habe.“
Als er dort ankam, fand er das Schaf nicht mehr vor. Er fluchte wie ein Verrückter.
„Sind diese Schafe denn Blitze, dass sie sich in der Luft auflösen können? Was soll ich jetzt nur tun? Ich kann nicht nach Hause kommen, ohne etwas zu essen mitzubringen. Also kann ich nur nach Betlem zurücklaufen und nachschauen, ob meine zwei verlorenen Schafe wieder zu ihrer Herde zurückgekehrt sind. Und wenn nicht, dann muss ich den Schäfer um ein neues Tier bitten.“
Er ging zurück zu dem Schäfer von Betlem und erzählte ihm von den verlorenen Schafen.
„300 Teufel! Du meinst, das zweite sei also auch fortgelaufen?“ fragte der Schäfer.
„Reden wir nicht mehr davon!“ sagte Massot. „Mir ist schon ganz übel von dem, was geschehen ist. Ist denn nicht wenigstens eins von den verlorenen Tieren zurückgekommen?“
„Nein“, antwortete der Schäfer, „aber warum nimmst du nicht noch eins? Allerdings: Wenn die anderen beiden nicht mehr zurückkommen, dann musst du mir drei Schafe bezahlen.“
„Danke, vielen Dank“, erwiderte Massot, „und wenn die beiden anderen auch nicht zurückkommen: Ich werde bezahlen, so sicher, wie ich Massot heiße.“
Massot ging fort nach Artá und hatte das dritte Schaf auf dem Rücken. Er band es so stark zusammen, bis er keine Schnur mehr hatte. „Nur mit Hilfe des Teufels kannst du dich selbst befreien“, sprach er zu dem Schaf.
Als die Sonne schon fast untergegangen war, erspähte der Hauptmann der Diebe vom Höhleneingang aus Massot zum dritten Mal.
„Augustino, Augustino!“ rief er.
Augustino eilte zu seinem Hauptmann.
„Dort ist Massot mit einem weiteren Schaf. Lauf und hole es, und komm nur ja nicht ohne es zurück!“
„Habt ihr zwei Stücke Kork, so groß wie eine Handspanne?“ fragte Augustino. Ein Dieb lief in die Höhle, suchte dort herum und kam mit zwei Korkstücken zurück.
Schneller als ein Geschoß rannte Augustino zur Straße und verbarg sich hinter einem Busch am Straßenrand. Dort erwartete er Massot.
Bald genug hörte er Massot - triss-trass - die Straße heraufstapfen.
Augustino nahm seine zwei Korkstücke, jedes in eine Hand, und rieb sie aneinander, tup-tup-nyak, tup-tup-nyak, tup-tup.
Als die Laute an Massots Ohren drangen, dachte er sich: „Was für ein verdammtes Geräusch ist denn das? 300 Donnerwetter! Ich weiß, was das für ein Lärm ist. Es sind meine zwei verlorenen Schafe. Sie haben sich gefunden und kämpfen gerade miteinander. Das Geräusch kommt von ihren kleinen Hörnern, die gegeneinander stoßen. Das ist ganz klar! Ich werde hingehen und sie holen.“
Und Massot legte das Schaf, das er trug, auf die Erde und rannte in die Richtung, wo er das tup-tup-nyak, tup-tup vernommen hatte.
Aber Augustino huschte schon wieder von Busch zu Busch und rieb die beiden Korkstücke aneinander. Damit lockte er Massot immer weiter von der Stelle fort, wo dieser sein Schaf zurückgelassen hatte.
Massot war so darauf versessen, seine Schafe wiederzubekommen, dass er den Untergang der Sonne gar nicht bemerkte. Er lief und lief, bis seine Schuhe entzwei waren. Schließlich wurde es so dunkel, dass Massot kaum noch die Hand vor Augen sehen konnte.
Augustino kannte den Berghang sehr gut, und als er sah, dass Massot weitab von der Straße in den Dornenbüschen herumstolperte, warf er seine Korkstücke fort und beeilte sich, Massots drittes Schaf zu stehlen. Er fand es an der Stelle, wo Massot es zurückgelassen hatte. Augustino lud das Tier auf seine Schultern und lief zur Höhle. Er ließ den stolpernden und fluchenden Massot 700 Schritte weit hinter sich zurück.
Mit Riesensätzen lief Augustino zur Höhle. Er fand den Hauptmann und die anderen Diebe beim Abendessen, sie verspeisten riesige Mengen Reis mit faustgroßen Stücken Schaffleisch. Alle lobten Augustino, dass er es fertiggebracht hatte, so wohlschmeckende, fette Schafe einem so starken und schlauen Mann wie Massot zu stehlen. Alle außer dem Hauptmann, der sagte gar nichts und aß weiter.
„Ihr seid schon beim Abendessen“, sagte Augustino, „ der Reis riecht gut, und ich habe einen Riesenhunger.“
Augustino nahm Löffel und Teller und setzte sich an den Tisch. Als er sich aber von den Speisen nehmen wollte, sagte der Hauptmann: „Halt! Tauche deinen Löffel nur ja nicht in den Reis! Oder du wirst mich kennenlernen!“
Dann wandte sich der Hauptmann an einen Dieb, der am Feuer saß und sagte zu ihm: „Wo sind die Bohnen, die von vorgestern noch übrig sind?“
„Diese Bohnen?“ fragte der Koch der Diebe. „Irgendwo müssen sie noch sein, ich habe sie nicht fortgeworfen, und auch die Ameisen haben sie nicht gefressen.“
„Stell die Bohnen aufs Feuer! Augustino wird sie essen“, sagte der Hauptmann.
Als Augustino das hörte, lief ihm ein kalter Schauder über den Rücken, und er vermochte erst kein Wort zu erwidern. Dann aber rief er: „Was soll das heißen? Bekomme ich nichts anderes zu essen als alte Bohnen?“
„Nein, Söhnchen“, erwiderte der Hauptmann, „sei froh, dass die Ameisen sie dir übriggelassen haben!“
„Ihr meint, dass ich - der ich den ganzen Tag schwitzend herumgelaufen bin, um Massot drei Schafe zu stehlen, und genug Nahrung für Wochen hierher zur Höhle gebracht habe - mit den Bohnenresten zufrieden sein muss?“
„Ja, mein Sohn“, antwortete der Hauptmann, „und mehr wirst du nicht bekommen. Und wenn du noch so viel von Ungerechtigkeit redest!“
„Ihr seid mir der Richtige!“ sagte Augustino. „Ihr habt den ganzen Tag nichts anderes getan als euch den Bauch zu kratzen, eure Pfeife zu rauchen und euch mit gutem, frischem Schaffleisch vollzustopfen. Und ich soll jetzt das Nachsehen haben, wenn ich die faulen Bohnen nicht herunterwürge? Sagt mir, welches Gesetz denn so etwas bestimmt!“
„Du fragst hier nach Gesetzen?“ antwortete der Hauptmann. „Wir haben keine. Wenn du nach Gesetzen suchst, bist du hier am falschen Ort. Ich will dir sagen, welches Gesetz hier gilt: das Gesetz der Diebe! Du hast Massot diese Schafe gestohlen, und nun stehlen wir sie dir. Wer stiehlt, der wird auch bestohlen. Je mehr man stiehlt, desto weniger hat man dann zuletzt. Wie möchtest du deine Bohnen? Wenn sie dir nicht schmecken, so iß weniger, dann bleibst du mager.“
„Wenn das hier so zugeht“, sagte Augustino, „dann gehe ich lieber nach Artá zurück.“
Schließlich kam er heim und klopfte an seiner Mutter Tür. Als sie öffnete, umarmte sie ihn, und beide freuten sich wie Kinder.
„Du hattest recht, Mutter“, sagte Augustino, „ich wählte einen schlechten Beruf.“ Und er versprach seiner Mutter, von nun an hart zu arbeiten. Das tat er auch.
Er wurde der beste Bauer in Artá und heiratete ein hübsches Mädchen. Massot ersetzte er seine drei Schafe, und seiner Mutter machte er nie wieder Ärger. Und niemand in Artá gab seinen Kindern eine bessere Erziehung als Augustino. Und er lebt noch heute in Artá, wenn er nicht gestorben ist.
(Quelle: Märchen aus Mallorca - Fischer Taschenbuch Verlag)