Märchen und mehr...

Märchen machen Mut



Hier könnt Ihr jeden Monat ein anderes Märchen lesen
 

November


Der jüngste Sohn des Jägers


Er war ein großer Häuptling und ein großer Jäger. Vier Söhne hatte er, stattliche
junge Männer, die er oft mitnahm auf die Jagd. Immer wieder aber zog er auch
alleine los und kam erst nach einigen Tagen wieder zurück, meist mit reicher Beute.
So zog er auch eines Tages wieder los. Aber diesmal kam er nicht wieder, nicht
nach einer Woche, auch nicht nach zehn Tagen. Seine Frau schickte die vier Söhne
los, um den Vater zu suchen. Eine Woche lang suchten sie, aber sie fanden keine Spur
von ihm. Sie kehrten heim.
Zu der Zeit merkte die Mutter, dass sie mit dem fünften Kind schwanger war. Sie
schickte die vier Söhne wieder los. „Sucht nach eurem Vater! Sucht weiter!“
Die vier Söhne zogen los, durch Urwald und Savanne. Sie suchten alle Plätze auf,
die der Vater ihnen früher bei der Jagd gezeigt hatte. Sie fanden keine Spur von ihm.
Sie kehrten zurück. „Wir konnten keine Spur von ihm finden“, erklärten sie.
„Versucht es noch einmal“, bat die Mutter. „Geht noch weiter!“
Nochmals zogen sie los. Drei Wochen suchten sie, aber sie fanden keine Spur von
ihrem Vater. Sie kehrten zurück. „Er ist verschwunden. Wir können ihn nicht
wiederfinden“, erklärten sie. Sie zogen nun nicht mehr los, um ihn zu suchen, und mit
der Zeit begannen sie ihn zu vergessen.
Der Bauch der Mutter aber begann sich zu runden, und zur rechten Zeit brachte sie
ihr fünftes Kind zur Welt, einen kleinen Jungen. Schon bei der Geburt hatte er
ungewöhnlich große, fragende Augen. Er wuchs rasch. Nach einem Jahr machte er die
ersten Schritte, und kurz danach begann er zu sprechen. Seine ersten Worte waren:
„Wo ist mein Vater?“
Die vier älteren Söhne schauten sich betroffen an. Sie hatten gar nicht mehr an den
Vater gedacht! „Wir wollen noch einmal losziehen und ihn suchen!‘ erklärten sie.
„Und diesmal kommen wir erst wieder, wenn wir ihn gefunden haben!“ Sie machten
sich nochmals auf den Weg und gingen weiter, als sie jemals gegangen waren.
Irgendwann erblickten sie in der Savanne einen zerbrochenen Speer. An den Zeichen
am Schaft erkannten sie, dass es der Speer ihres Vaters war. Nicht weit von dem Speer
erblickten sie einen weißen Knochen, den Oberschenkelknochen eines Mannes. Da
begriffen sie, dass ihr Vater nicht mehr am Leben war.
„Lasst uns alle Knochen von ihm suchen!“ rief der älteste Bruder. „Ich kann sie
dann in ihrer richtigen Anordnung hinlegen.“ Sie suchten und suchten die ganze
Umgebung ab, bis sie schließlich alle Knochen beisammen hatten.
„Bringt mir Erde und Wasser!“ rief der zweite Bruder. „Ich werde sie um die
Knochen legen und so formen, wie die Muskeln, die Sehnen und der ganze Körper
geformt sein sollen.“ Sie brachten ihm Erde und Wasser, und er formte daraus die
Muskeln, die Sehnen und den Körper rings um die Knochen. Er formte auch das
Gesicht mit Nase, Augen und Ohren, Mund und Lippen .
Nun rief der Dritte: „Bringt mir Blätter, und ich werde daraus die Blutgefäße, die
Nerven und die Haut formen. Sie brachten ihm Blätter, und er legte die Stängel so aus,
dass Adern und Venen und Nerven daraus wurden. Mit den Blättern bedeckte er den
Körper, und aus ihnen wurde die Haut.
Darauf sprach der Vierte: „Nun werde ich ihm den Atem des Lebens einhauchen!“
Er kniete hin und hauchte ihm seinen Atem in die Nase. Da begann der Vater zu
atmen, öffnete die Augen und schaute sich um. „Ich war lange fort, weit fort", sagte er.
Die vier Söhne erzählten ihm, was geschehen war, bis sie ihn wiedergefunden hatten.
Sie kehrten gemeinsam zum Dorf zurück. Der Vater blieb ein Stück außerhalb des
Dorfes sitzen. Er schor sich die Haare, wie es alle tun, die aus dem Totenreich
zurückkehren. Die vier Söhne aber erzählten im Dorf, was geschehen war, wie sie den
Vater gefunden und ihn wieder ins Leben zurückgeholt hatten.
Im Dorf wurde ein großes Fest vorbereitet, um den Vater wieder aufzunehmen und
seine Rückkehr zu feiern. Der Vater aber begann einen Kuhschwanz zu flechten und
zu verzieren, um einen Fliegenwedel daraus anzufertigen. Es wurde ein sehr kostbar
verzierter Fliegenwedel, wie ihn nur Häuptlinge verwenden.
Dann kam der Tag des Festes, und der Vater wurde mit Trommeln, Gesang und
Tänzen ins Dorf zurückgeholt. Alle versammelten sich auf dem Platz in der Mitte des
Dorfes, um ihn zu begrüßen. Er erklärte: „Alle meine Söhne haben dazu beigetragen,
mich ins Leben zurückzuholen. Ich habe aber nur einen Fliegenwedel gemacht. Er ist
für denjenigen bestimmt, der am meisten dazu beigetragen hat.“
Die Menschen hatten verschiedene Meinungen, welcher der Söhne das wohl sein
könnte. Sie erklärten ihre Standpunkte, widersprachen einander und stritten heftig. Der
Vater aber ging zu seinem jüngsten Sohn, verneigte sich tief vor ihm und überreichte
ihm den kostbar verzierten Fliegenwedel. „Hätte er nicht nach mir gefragt“, erklärte er,
„so hätte keiner mehr nach mir gesucht und ich wäre nie aus dem Reich der Toten
zurückgekehrt!“
So heißt es bis heute, dass ein Mensch erst dann wirklich tot ist, wenn niemand
mehr an ihn denkt und von ihm spricht.

Quelle: https://www.maerchenschatz.de/ordkost/Der%20juengste%20Sohn%20des%20Jaegers.pdf