DieTödin und die Gänsehirtin
Einmal kam die Tödin über den Fluss, wo die Welt beginnt und endet. Dort lebte eine arme Hirtin, die eine Herde weißer Gänse hütete. „Du weißt, wer ich bin, Kameradin?, fragte die Tödin. „Ich weiß, wer du bist. Du bist die Tödin. Ich sah dich oft auf der anderen Seite des Flusses, ich kenne dich so gut, dass du mir wie eine Schwester bist.“ Die Tödin sagte: „Dann weißt du, dass ich hier bin, um dich zu holen und mitzunehmen auf die andere Seite des Flusses?“ - „Ich weiß es.“ Die Tödin: „Du fürchtest dich?“ - „Nein“, sagte die Hirtin, „ich habe immer auf die andere Seite des Flusses geschaut, ich kenne sie. Nur meine Gänse werden dann allein sein.“ - „Ach“, sprach die Tödin, „eine andere Hirtin wird kommen.“ - „Dann ist auch das so in Ordnung“, sagte die Hirtin. „Nun werde ich dir noch einige Zeit lassen. Wünsche dir etwas, was ich dir geben werde.“ - „Ach“, sprach die Hirtin, „ich habe immer alles gehabt, was ich brauchte: eine Bluse, einen Rock und einiges zu essen. Mehr habe ich nie gewollt. Ich hatte ein glückliches Leben. Ich kann Flöte spielen.“ Nun gut, die Tödin ging weiter, denn sie hatte noch einige andere in der Welt abzuholen, und kam nach einer Weile wieder. Hinter ihr gingen viele…
Als die Tödin der Gänsehirtin die Hand auf die Schulter legte, stand diese fröhlich auf und ging mit ihr mit, als habe sie ihre Schwester getroffen. Nur die Flöte hätte sie gerne mitgenommen, aber das war nun nicht nötig. Denn die Töne, die sie einst gespielt hatte, waren hinter dem Fluss ewig zu hören.
(Aus dem Buch: „Schwester Tod“ Erni Kutter, Kösel Verlag ISBN 978-3–466-36877-8)
Märchen erzählen von Veränderungen und Verwandlungen. Das sind Prozesse, die unweigerlich zu Leben und Tod, zu Sterben und Trauer gehören. Es kann heilsam und sogar heiter sein Märchen und Geschichten über den Tod zu hören, die in Zeiten entstanden sind, als er noch selbstverständlich zum Leben dazu gehörte. Da zeigt er sich oft als Freund, manchmal als Geliebter, oder auch als Frau...
Der Tod ist in unserer Gesellschaft weitgehend versteckt und wenig präsent, obwohl jeder Mensch eines Tages mit dem Tod zusammen sein wird. Darum möchte ich dem Tod helfen aus seiner Tabu-Zone herauszukommen.
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